DNA Semmering
Quo vadis, Sommerfrische?
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Exzess, Askese, Work-Life-Blending: Über mögliche Transformationsszenarien eines historischen Phänomens.

Was bringt die Zukunft? Wie lässt sich eine Vorausschau in Sachen Sommerfrische, die naturgemäß nur spekulativ sein kann, mit Megatrends in Verbindung bringen, die uns, wie der Name schon sagt, höchstwahrscheinlich noch länger begleiten werden? Als „Lawinen in Zeitlupe, die sich zwar langsam, aber mächtig entwickeln“, beschreibt sie das Zukunftsinstitut, das sich ihrer Erforschung verschrieben hat. Entwicklungen mit einer Dauer von mehreren Jahrzehnten, die sich überall auf der Welt auf alle Bereiche des Lebens auswirken, die vielschichtig daherkommen und mehrdimensional und sich gegenseitig beeinflussen und verstärken. Im Kontext mit der Sommerfrische sind vor allem vier Megatrends interessant: New Work, Mobilität, Konnektivität und Gesundheit.

„Die Sommerfrische ist kein Urlaub.“

Wolfgang Kos
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„Die Sommerfrische ist kein Urlaub“, hat der Autor Wolfgang Kos geschrieben, der sich intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt hat. Für die Jahrhundertwende galt das auf jeden Fall, blieb die Bourgeoisie ja auch Monate vor Ort. Heute zeigt sich ein anderes Bild. Wer hat schon die zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten, monatelang einfach das Quartier am Land aufzuschlagen? Die Dauer des Aufenthalts hat sich sicherlich verkürzt. Wenn man sich allerdings die Entwicklungen in der Arbeitswelt ansieht (Stichwort New Work) – und da reicht fürs erste auch schon die Ausweitung von Homeoffice und Remote-Work sowie die Idee, dass Arbeit und Freizeit immer mehr ineinandergleiten (statt „Work-Life-Balance“ heißt es heute „Work-Life-Blending“) – dann stellt sich die Frage, ob in Zukunft nicht auch die Sommerfrische-Regionen wieder Möglichkeiten des längeren Aufenthalts bieten sollten.

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Auch hinsichtlich der Erderwärmung, die die Stadt im Sommer immer mehr aufheizt. Sollten nicht mehr leistbare Unterkünfte für Menschen geschaffen werden, die sich von der Region inspirieren lassen wollen, wie es Schnitzler, Freud et altri damals taten? Co-Working-Spaces, wo Ansässige und „Zuagroaste“ gemeinsam an neuen Ideen arbeiten – und wo die Stadtmenschen nicht mehr jene Parallelgesellschaft darstellen, wie sie es zu Zeiten des Fin de Siècle taten? Neue Orte schaffen neue Gedankenwelten. Haben die Wiener Alpen nicht etwas an sich und in sich, das man als Katalysator bezeichnen könnte? Ist die Region nicht die ideale, wenngleich immer nur temporäre, Destination für die digitalen Nomaden, die das Konzept von Heimat für sich völlig neu definiert haben?

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„Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert“, hat Ex-Hewlett-Packard Chefin Carly Fiorina schon vor Jahren prophezeit. Tourismus- und Kulturbranche nicht ausgeschlossen, selbstverständlich. Was bedeutet das für eine Region wie die Wiener Alpen? Welche Chancen gibt es, welche Risiken? Und wie sieht es mit dem bewussten Verzicht auf Erreichbarkeit aus – Stichwort: Digital Detox?

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„Wer ein Warum hat zu leben, erträgt fast jedes Wie.“

Viktor Frankl

Wenn es um Mobilität geht: Kann man sich die Semmering-Rax-Region autofrei vorstellen, so wie im schweizerischen Zermatt? Wie sieht es mit Car-Sharing-Konzepten aus? Was die Anreise per Zug betrifft, haben die Wiener Alpen ja bereits Vorbildcharakter. Und dann gibt es noch das große Thema Gesundheit – mit Phänomenen wie Detoxing, Self-Care, Achtsamkeit, Resilienz. Mit letzterem Begriff, der sich als psychische Widerstandsfähigkeit definieren lässt, ist auch eine der gleichzeitig ältesten und zeitgeistigsten Fragen der Menschheit verbunden: jene nach dem Sinn. Wo einem sofort wieder Viktor Frankl einfällt, der sich auf Nietzsche, den großen Philosophen, bezog, als er konstatierte: „Wer ein Warum hat zu leben, erträgt fast jedes Wie.“ Die Sinnfrage ist eine existentielle und essenzielle. Sie stellt sich sowohl den Wiener Alpen als gastgebende Region als auch jenen, die zu Besuch kommen. Sie ist auch stark mit dem Thema New Work verbunden, charakterisiert sich diese Vorstellung von Arbeit neben Faktoren wie zeitlicher und örtlicher Flexibilität auch vor allem durch ihre Sinnhaftigkeit: Wie gebe ich meinem Leben durch meine Arbeit einen Sinn? ist die zentrale Frage. Es geht um Selbstverwirklichung, die der New-Work-Begründer Frithjof Bergmann definierte als „das zu tun, was man wirklich, wirklich will“.

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Zwischen Exzess und Askese: die „wilde“ Sommerfrische.

Eine weitere Frage, die sich aufdrängt: Braucht der moderne Mensch für seine Psychohygiene mehr als ausgewogene Kost, ausreichend Bewegung, ein belastbares soziales Umfeld und ein erfüllendes berufliches Leben? Der Philosoph Robert Pfaller unterstellt unserer Gesellschaft eine Genuss- und Lustfeindlichkeit, die sich in zahlreichen, nur vermeintlichen Freiheiten, manifestiere: Glutenfreiheit, Alkoholfreiheit, Zuckerfreiheit. Seine Anhängerinnen und Anhänger – und wohl nicht nur sie – loben den Exzess als temporären Entlastungsmechanismus, geben sich bewusst und feierlich dem dekadenten Genuss hin, ohne die Frequenz überzustrapazieren. Und als Kontrapunkt zum Exzess gibt es dann immer noch die Askese, die oft verbunden ist mit einer Einkehr in die Natur. Beides miteinander zu vereinen, scheint ein Weg zu sein, den so manche gerade gerne einschlagen. Wird es eine Renaissance dieser „wilden“ Sommerfrische geben, ganz nach dem Motto „In der Villa, da gibt’s koa Sünd?“ Oder, wird der Rauschzustand ganz im Gegenteil nicht um seiner selbst willen kultiviert, sondern – zum Beispiel im Rahmen von Retreats – zur Erforschung des eigenen Bewusstseins? Auch Askese kann berauschen. Oder Sport, wie schon Viktor Frankl wusste: „Genau darin sehe ich die Funktion, um nicht zu sagen die Mission, des Sports im Allgemeinen und des Alpinismus im Besonderen: sie sind die moderne, die säkulare Form der Askese.“

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„Rituale (…) verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie sind in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist. Sie machen die Zeit bewohnbar. Ja, sie machen sie begehbar wie ein Haus.“

Byung-Chul Han

Braucht es wieder vermehrt Rituale, wie es der Philosoph Byung-Chul Han fordert, um dem Gefühl der davonrasenden Zeit konstruktiv zu begegnen? „Rituale (…) verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie sind in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist. Sie machen die Zeit bewohnbar. Ja, sie machen sie begehbar wie ein Haus.“ Kann eine Region wie die Wiener Alpen zu so einem verlässlichen Ort werden? Kann sie dem gestressten Stadtmenschen das geben, was er braucht? Geht es nach dem Soziologen Hartmut Rosa, ist die Antwort auf die Schnelligkeit der Welt übrigens nicht die viel zitierte Entschleunigung, sondern eine Art der Weltbeziehung, die er Resonanz nennt: Etwas wird in mir zum Schwingen gebracht.

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Über Fragen wie diese lohnt es sich nachzudenken. Vielleicht bei einem Glas spritzigem Verjus oder einem neonkorallenfarbigen Campari Soda, im Schatten eines Apfelbaumes oder auf der Veranda einer alten Villa, die die Zeichen der Zeit absichtlich nicht verstecken will. Mit Ausblick auf den Wiener Alpenbogen. Und am Abend dann ins Theater.


Autorin: Martha Miklin II friendship.is