Gibt es bessere und schlechtere Orte für Menschen mit Mental Health Issues? Wie reagieren die im Inneren lauernden Dämonen auf die „rassiermesserscharfe“ Luft am Semmering? Was macht der Ort mit dem eigenen Kern?
Gehen, laufen, schauen, atmen, absorbieren, aufschreiben, verwerfen, umschreiben; repeat.
dieser text macht mich verrückt, weil er einerseits eine freie auftragsarbeit ist und erwartet wird und weil, auf der anderen und bedeutenderen seite, texte wie diese wichtig sind, und zwar nicht nur für mich, denn es gibt so viele wie mich und wenn es heißt „was im weg steht, wird zum weg“, wie marc aurel gesagt hat, dann steht wohl DAS bei mir im weg und dann ist es wohl meine aufgabe mich DA durchzuwühlen und DARAN abzuarbeiten. dieses DAS hindert mich daran gut zu leben, es schränkt mich ein und macht mich zu einer versehrten. dieses DAS ist da seit ich denken kann, zuerst kamen die angstzustände, dann die depressionen, die depersonalisation, die essstörungen und die OCD und dann die neurologischen symptome, die ich als ZUSTÄNDE bezeichne, weil sie ein zustand sind und mit all dem einhergehend die medikationen, die therapien, die behandlungen aller art und natürlich die selbstbetäubungen weil sonst hält man sowas ja nicht aus. das zu wissen ist genug für diesen text, denn in diesen zeilen ist kein platz für details oder vielleicht habe ich einfach keine lust darauf alles wiederzukäuen wie in den 12 jahren therapie oder die 17 medikamente aufzuzählen, die ich seit den 90ern aus alupackungen gequetscht, ausgekotzt, bei mir behalten, abgesetzt, umdosiert, gewechselt und kombiniert habe, denn die würden besser in ein diagramm passen mit dem titel „meine störungen in milligramm“. nein, es gibt nicht DEN grund, DAS trauma, auch wenn die sehnsucht nach dem alles erklärenden ereignis groß ist und ich übrigens, mittlerweile!, sehr wohl der meinung bin, dass nicht nur ICH das problem bin, sondern die welt an sich eine große rolle spielt. aber nichts ist wohl monokausal, alles ist komplex und ein mosaik und vieles liegt im nebel oder in der dunklen materie, die immerhin 95% des universums ausmacht. und irgendwann weicht die suche nach den antworten dem versuch, mit diesem DAS klarzukommen und nun muss ich Brené Brown zitieren, weil es so gut passt: „Hold your shadow in front of you; it can only take you down from behind.” und nein, auch das vorhandensein von antworten führt nicht unbedingt dazu, dass es besser wird. man versucht also, trotzdem zu leben oder trotzdem ja zu sagen zum leben wie viktor frankl gesagt hat, der, auf die frage, ob es nicht vermessen sei, dieses motto auf einen menschen anzuwenden, der nicht im KZ war, sagte: „jeder hat seinen nullpunkt.“
dieser text nagt an mir, weil ich nicht weiß, wo ich beginnen soll, aber vielleicht ist gerade DAS der ort an dem ich beginnen muss, indem ich sage: ich hab keine ahnung wo ich anfangen soll, denn ich glaube, dass auch das mich mit vielen verbindet, die in diesem teich schwimmen müssen, weil man weiß ja nicht: ist das körperlich? ist da zuwenig dopamin / serotonin / oxytocin in meinem körper? hat es mit der kindheit zu tun? muss ich traumata austragen die gar nicht meine sind? soll ich psychoanalyse machen oder verhaltenstherapie? psychodynamisch imaginative traumatherapie oder existenzanalyse? soll ich cipralex nehmen oder lamictal und wie oft darf es xanax sein bevor ich abhängig werde? muss ich lernen mich umzuprogrammieren, sollte ich dankbarer sein und endlich konsequent meditieren was mir seit jahren misslingt? warum ist es in mir so zerrüttet und dunkel und wo ist mein inneres kind? und wann kann ich endlich im therapeutischen setting psychedelika ausprobieren? all diese fragen hab ich beackert und ausgelotet und die reise ist noch lange nicht vorbei, denn mental health ist mein realer full time job. nein, ich kann kein leben führen, das man als normal bezeichnen würde, auch wenn es auf den ersten blick so wirken mag. ich könnte keinen 9 to 5 stunden job in einem office machen, weil ich nie weiß, ob ich FUNKTIONIERE wenn ich morgens aufwache oder ob es wieder einer dieser tage wird, die ich AUSHALTEN muss oder ob es eine kombination aus beiden konstellationen ist, denn das eine kann sehr schnell ins andere kippen. und im übrigen bin ich der meinung, dass 9 to 5 jobs sowieso irgendwie falsch sind so wie vieles andere auch das mit stress und einem mangel an bewegung in verbindung steht, denn der mensch ist nicht designt dazu um jeden tag an einem tisch zu sitzen.
dieser text fordert mich heraus, weil ich will dass sich andere dadurch vielleicht ein bisschen verstanden fühlen oder zumindest gesehen und das ist keine leichte übung. die worte gehen mir durch die lappen weil ich meinen gedanken hinterherhinke, zu langsam bin um sie zu erfassen und niederzuschreiben, sie splittern sich immer in so viele neue auf und ich weiß nie welchem ich folgen soll, und dann sind da wieder neue, die von oben und unten auf mich einströmen und wahrlich, das ist anstrengend auf dauer. und weil dann soviel auf einmal da ist, geht nichts weiter und meine lebenszeit rinnt mir zwischen den fingern durch wie von der sonne gewärmte sandkörner und dann sind die texte immer nur so eindimensional und linear und unbefriedigend und ich frage mich ob es einen unterschied machen würde könnte ich mit zehn fingern schreiben denn das kann ich nicht obwohl ich wenig anderes tue im leben als in die tasten zu hauen, nur eben mit nur 30 bis 40% der mir zur verfügung stehenden finger.
in diesem text kann ich nur für mich sprechen, auch wenn ich zu behaupten wage, dass sich andere darin vermutlich wiederfinden. ich habe keine lösung und keine mission und gehe mit haruki murakami, der sagt, er schreibe „ohne hoffnung und ohne verzweiflung“, wobei ich jetzt schon daran zweifle, dass mir das gelingen wird, denn wenn ich mich ehrlich befrage, muss ich feststellen, es ist von beidem was da.
„Wherever I sat — on the deck of a ship or at a street café in Paris or Bangkok — I would be sitting under the same glass bell jar, stewing in my own sour air.“
Sylvia Plath
dieser text sollte eigentlich schon längst fertig sein, denn jede auftragsarbeit hat eine deadline und die halte ich prinzipiell ein, es sei denn, sie lässt sich verschieben. ich hatte ihn in der villa am semmering schreiben wollen und sollen, und ich habe vier dokumente voller fragmente und angefangener sätze und toller zitate wie diesem von sylvia plath, die genau das schaffen was ich so gerne würde: „Wherever I sat — on the deck of a ship or at a street café in Paris or Bangkok — I would be sitting under the same glass bell jar, stewing in my own sour air.“
dieser text ist also der text, den ich am semmering hätte schreiben sollen, wo ich mit robert maruna und ian ehm in einer über 100jährigen villa auf residency war, um zu schauen wie sie so ist für leute für mich, denn das war mein forschungsauftrag: mach was mit mental health und dem ort. viele zimmer gab es da, einen lichtdurchfluteten wintergarten mit salbeigrüner holzfassade und eine große küche, in der ich, an einem kleinen tisch am fenster, abwechselnd eichhörnchen und spechte beim sonnenblumenkernkonsum beobachtete und fragmente niederschrieb, die hier schon hineingeflossen sind und es auch noch werden. ich habe dort, und das ist für mich ein EREIGNIS, durchgeschlafen, mehrere nächte hintereinander bin ich nicht aufgewacht um stundenlang die decke anzustarren, und ich glaube, das liegt an der „rasiermesserscharfen“ luft, wie peter altenberg sie beschrieben hat, und an der schwarzen nacht und an der stille. und ja, ich gebe sylvia plath recht mit dem, was sie sagt, zumindest was akute phasen betrifft, denn da kann auch der ort nichts mehr ausrichten, da läuft man wie ein angeschossenes tier durch die gegend und braucht einfach nur erste hilfe. depression heißt, nichts geben und nichts annehmen zu können. depression ist gleichzeitig leere und GRAUEN, unfassbares grauen. depression heißt, dass es keinen ort gibt, an dem es gut wird. depression heißt, dass man nirgendwo hin kann aber es an dem ort an dem man ist nicht aushält.
in diesem text muss ich aber auch sogar sylvia plath widersprechen, denn wenn es um nicht-akute phasen geht, kann ich, was mich betrifft, mit sicherheit sagen, dass orte nicht irrelevant sind für das, was in einem vorgeht und dass es bessere und schlechtere orte und kontexte für eine:n gibt; oder dass der wechsel von orten förderlich sein kann für DAS, was ich habe und so viele andere ebenso, wobei ich mir nie anmaßen würde zu sagen: wenn es für mich funktioniert, dann funktioniert es für andere auch. denn das hört man so oft: wenn ICH es geschafft habe, schafft es jede:r andere auch, und da denke ich mir jedes Mal: WARUM? das regt mich richtig auf, denn jede:r ist anders gebaut, jede:r hat eine eigene biografie, jede:r hat eigene ressourcen, blinde flecken und wunde punkte, also wie kommt überhaupt jemand auf die idee, zu sagen: wenn ich, dann alle anderen auch? das menschliche bedürfnis nach kausalitäten ist grenzenlos, aber so oft ist es falsch. oder mit den worten kurt cobains: „just because you’re paranoid, don’t mean they’re not after you.“
„Just because you're paranoid, don't mean they're not after you.“
Kurt Cobain
ich war also am semmering und da gibt es viele bäume und wiesen und wälder und felsen und wege und ausblicke. all das macht den semmering zu einem guten ort für leute wie mich, denn leute wie ich brauchen pflanzen und weiche waldböden und gute gerüche und sonne und luft die so frisch ist dass man merkt, dass man sie atmet. am semmering, da bin ich stundenlang durch die wälder flaniert, da riecht es nach fichtennadeln und freiheit und es stellt sich, wenn auch nur für kurz, dieses alles-ist-gut-gefühl ein und ich musste immer wieder an kanye wests lyrics „and I feel kind of freeeee“ denken wobei ich das „kind of“ besonders mag, denn wie kann man wirklich frei sein in einer welt in der man gezwungen ist sich selbst zu erhalten und in einem körper, der ab dem 25.lebensjahr, wie mal ein todesforscher gesagt hat, beginnt sich abzubauen.
„Think about it: there is no experience you have had that you are not the absolute centre of.”
David Foster Wallace
am semmering, da bin ich auf gipfel gewandert und konnte von dort aus so weit blicken, dass ich mich selbst vergaß und wohltuend klein fühlte und vielleicht für ein paar momente nicht das gefühl hatte, in mir selbst gefangen zu sein, unter der glasglocke. auch wenn david foster wallace, den ich ebenso anbete wie sylvia plath, gesagt hat: „Think about it: there is no experience you have had that you are not the absolute centre of.” ja, er hat recht damit, egal wo man ist und was man tut, es ist immer man selbst der dort ist und das tut. aber wenn man sich vergisst, ist man dann immer noch das zentrum der erfahrung oder findet eine verschiebung statt durch die man sich, wenn auch im nachhinein, selbst beobachten kann? und wer ist dann ich? wenn ich mich selbst beobachten oder zum objekt meiner gedanken machen kann, wer denkt dann über wen nach? who am I and who is me?
am semmering, da ich bin den weg entlang der bahn gegangen, die seit 140 jahren da ist, das muss man sich mal vorstellen dass da einer kam der gesagt hat: wir hauen da jetzt überall löcher in die felsen und stellen zigmeterhohe viadukte auf und dann können die müden städter:innen aus ihrem smogloch hierherkommen auf sommerfrische und das leben feiern in den grand hotels. all die leerstehenden hotels und gründerzeitvillen, diese denkmale der dekadenz mit ihren abblätternden fassadenfarben und geschlossenen fensterläden, die hier die schlangenartigen straßen säumen, erzählen von wilden nächten und kleinen exzessen und liebelein, und man kann fast schon die champagnerflaschenkorken von damals knallen hören: sehr zum wohle! auf das leben! enchanté! es ist eine wohltat diese häuser zu betrachten, denn sie sind schön und interessant und so versehrt wie ich selbst mich fühle. sie erinnern an wabi-sabi, diese philosophie aus japan, die wahre schönheit in der vergänglichkeit und dem makel verortet: „there is a crack in everything, that’s how the light gets in“, wie leonard cohen gesagt hat und ich würde fast sagen: der semmering tut nicht so, als gäbe es den tod nicht. in einer welt, die sehr darum bemüht ist, ihn zu leugnen oder zumindest zu verdrängen, ist das erstens fast schon radikal und zweitens unheimlich tröstend.
He is not your savior.
Kendrick Lamar
am semmering, da erinnert man sich daran, dass es orte und zeiten gibt, an und in denen man das gefühl hat, dass der eigene kern stärker wird, kräftiger; er glänzt dann wieder mehr, bekommt substanz und dichte und wird etwas, an dem man sich festhalten kann, wenn dann wieder mal alles zerbricht und zerbröselt, denn das zieht sich wie ein roter faden, oder eher wie ein schwarzer, durch den raum und die zeit die ich und bewohne und durch die ich mich bewege, wie so viele andere auch. der kern wird zum ruhepol und anker, und vielleicht gibt er einem dann die kraft, in die löcher zu blicken, die da überall sind und die man mit allem was man sich vorstellen kann zu füllen versucht in der ständigen hoffnung auf erlösung von der ich zu wissen glaube, dass es sie nicht gibt, was mich aber nicht daran hindert, ihr reflexartig nachzulaufen und sie in allem möglichen zu vermuten, allen voran in anderen menschen, was natürlich problematisch ist; das weiß auch kendrick lamar:
Kendrick made you think about it, but he is not your savior.
Cole made you feel empowered, but he is not your savior.
Future said, "Get a money counter", but he is not your savior.
am semmering, da habe ich mich daran erinnert, dass trotz allem etwas auf eine gute art und weise aufbrechen kann. dieser text ist vielleicht deshalb so rough und wild und so ein zickzack weil die landschaft am semmering all das ist und immer war. die luft ist so klar und scharf dass sie glitzert und knistert und zu sagen scheint: wach auf, ort, du hast lange genug geschlafen; es wird zeit. die luft, die sich auch durch meine lungenflügel gezogen und dabei nichts zerschnitten oder aufgeschnitten hat wie ein rasiermesser, wobei, wer weiß das schon. und wenn: wer sagt, dass das schlecht sein muss.
und jetzt muss ich am marina abramovic denken die ich genauso VEREHRE wie sylvia plath und david foster wallace und an ihre übersetzungen von trauma in kunst, „turning trauma into art“ und an den satz, der in einer dunklen phase zu mir kam: alles was dir passiert ist dein material. und da fällt mir wieder kendrick lamar ein und sein neues album auf dem es einen track gibt der damit beginnt dass er panikartig atmet und diese hervorgestoßenen laute der angst werden zu rhythmus und zu lyrics und zu etwas starkem und da muss ich an die interpretation von FEAR als akronym denken, das so viel heißen kann wie: feeling excited and ready und jetzt bin ich das auch irgendwie trotz allem, aufgeregt und bereit, und ich glaube, dass etwas aus dem außen mit etwas, das in mir ist, in RESONANZ getreten ist, und worum soll es sonst gehen im leben wenn nicht um das, und wenn die depression eine reihe an losigkeiten ist, an gefühlslosigkeit, freudlosigkeit, antriebslosigkeit, verbindungslosigkeit, appetitlosigkeit, schlaflosigkeit, sinnlosigkeit, an RESONANZ-losigkeit, dann ist es die pflicht und die aufgabe von menschen, die DAS haben, in phasen ohne losigkeiten, denn die gibt es auch und die sind überlebensnötig und an die kann man dann denken wenn man wieder am nullpunkt ist, alles aufzusaugen und einzuatmen was auch nur ansatzweise resonanz erzeugt, seien es geschichten, melodien, orte, texte, menschen, sonne, bilder, farben, licht oder luft.
Text: Martha Miklin